Sonntag, 1. Juni 2008

Nahverkehr 1

ESSAURA BLOG #3 unzensiert und unverschlüsselt 20.05.2008

Das Nahverkehrssystem der Stadt

Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, müssen gewisse Gegebenheiten und Besonderheiten der Stadt geklärt sein, denn Nahverkehr findet auf Strassen, Plätzen und in Gassen statt. Die Strassenverhältnisse hier sind gewisslich anders als ihr sie kennt.

Essaouira besteht aus 2 Teilen, der Medina, die wir Altstadt nennen würden und der Neustadt, die die Medina halbkreisförmig umgürtet. Die Neustadt unterscheidet sich in keiner Weise von einer 70.000 Menschen zählenden Neustadt irgendwo in der 3. Welt. Die Bausubstanz ist halt wie sie in Santo Domingo oder in Bangolore auch wäre, nicht weiter interessant. Die Läden die man in der Neustadt findet, sind schon eher der Erwähnung wert. Dazu später mehr.

Die Medina von Essaouira wurde 2004 oder so zum Weltkulturerbe der Unesco für Afrika erklärt. Zu Recht. Als besonderer Grund für die Auswahl wurde die vollständig intakte Stadtmauer hervorgehoben. Marraksch, Rabat(die Königsstädte) und einige andere Städte in Marokko haben auch so eine intakte Mauer. Trotzdem. So eine Mauer hat schon was. Man kann das Arreal der Medina von 900 x 500 m nur durch 5 Tore betreten. Man orientiert sich in der Stadt automatisch zum nächstgelegenen Tor. Die Mauer ist so knapp 10 m hoch, umbrafarben gestrichen und es ist ein gutes Gefühl an der Mauer entlang zu gehen, sie im Rücken zu haben.

So langsam nähern wir uns dem Thema Nahverkehr. Vorneweg. Der Marokkaner geht Strecken von unter 3 - 5 km grundsätzlich zu Fuss, wenn nicht besondere Gründe wie Zeitkappheit oder Behinderung vorliegen. Aber Zeitknappheit in unserem Sinne und nach unserem Verständnis kennen die Leute hier nicht. Sie haben ein anderes Zeitempfinden, wie wir. Klar, schon mal gehört, dass in der 3. Welt alles etwas langsamer abläuft, als bei uns.

Obwohl, eine Ausnahme gibt es. Die Angehörigen der indischen Händlerkaste und einige andere indische Kasten, Wirte z.B., agieren wesentlich schneller als wir. Sie reden schnell und sie arbeiten sehr schnell, wobei sie stolz darauf sind und über beide Backen dabei grinsen. Wenn du in einem indischen Restaurant bezahlt hast, bist du für den Wirt oder Kellner zu weniger als eine Null geworden. Du bist ein Negativposten, der den Tisch besetzt und möglicherweise einem potentiellen Kunden wegnimmt. Selbst wenn du der einzige Gast bist. Tatsache, schon oft erlebt. Man gibt dir non- oder verbal zu verstehen, dass es Zeit ist, zu gehen.

Das ist hier anders. Zurück zur Medina. Die Medina ist vollständig für Autos gesperrt. Ausnahmen gelten für die Polizei und Krankenwagen. Ganz selten sieht man auf freier Strecke einen Radfahrer, meist schieben sie ihr Fahrrad, fast schon verschämt, durch die Gassen und Strassen. Bei rush-hour um 18°° hätten sie in dem Gedränge auch keine Chance.

Dennoch besteht ein dringendes Bedürfnis für die Beförderung von Lasten, denn die Altstadt ist ein pulsierendes Händlerzentrum mit riesigen Souks, die die verschiedensten Waren anbieten. Dazu kommen unzählige Handwerksbetriebe, die in der Medina angesiedelt sind. Auch diese wollen mit Rostoffen versorgt und ihre Erzeugnisse hinaus transportiert sehen.

Für diese Sparte des Nahverkehrs sind 2 Erwerbszweige zuständig. Die Karrenschieber und die Eselskarren. Der Karrenschieber ist meist zwischen 30 und 70 Jahre alt, hat eine Art Blaumann an, eine Baumwollmütze auf dem Kopf und trägt oft einen Schnurrbart. Die Karrenschieber sind völlig ungebildet, sprechen wenig französisch und schieben oder ziehen ihre Karren 10-12 Stunden am Tag mit mittelschweren Lasten beladen durch die Strassen und Gassen der Medina. Auch in der Neustadt findet man sie sehr zahlreich. Der Karren ist aus Metallleisten zusammengeschweisst, hat 2 Gummiräder und ist 1,40 m lang, 80 cm breit und 60 cm tief. Alle Karren sind blau, genauer mit der mediteranen Farbe Azul angestrichen. Wenn er keine frei Fahrt wegen engen Verhältnissen oder Gedränge hat, ruft er laut ‘Balak’, ‘Balak’, das bedeutet Achtung und ist eines der ersten arabischen Worte, die ich hier gelernt habe.

Die Eselskarren sind in Essaoura auf schwere Baustoff-Lasten spezialisiert. Wenn in der Altstadt ebenso in der Neustadt gebaut oder renoviert wird, sieht man die Karren an der Baustelle, wo sie entladen werden. Sand, Zement, Hohlblocksteine und anderes schweres Material wird bei Bedarf zum Bauherren angekarrt. Die Esel sind natürlich störrisch. Da die Sand- und Zementsäcke nur auf die Ladefläche aufgeschichtet und nur durch das eigene Gewicht gesichert sind, fallen die Säcke oft herunter, wenn der Esel seine Kapriolen treibt. Das kann ein Grasbüschel oder ein Zweig am Wegesrand sein, der den Esel interessiert. Schon macht er eine Drehung oder bleibt abrupt stehen und die Sache kommt ins Rutschen. Die Kutscher sind natürlich etwas brutal und gehen dann rüde mit dem Tier um, was mich dann immer dauert. Aber die Eselskarren halten die Benzinstinker aus der Stadt heraus.

Bevor wir die Altstadt verlasen, noch ein paar Absätze zu den niedrigen Berufsständen hier, die man so nicht aus zivilisierten Ländern kennt. Ich habe schon in einem der Blogs geschrieben, dass 1 Dirham(= 8 Eurocent) hier etwas wert ist. Für 5 Dirhams werden 2 Leute satt, sie bekommen dafür 5 Brote, das reicht im Notfall, um nicht zu hungern. Leider hungern hier viele Leute.

Ein marokkanischer Mann raucht i.d.R. Zigaretten, wenn er es sich leisten kann. Meist können sie es sich nicht leisten, da 1 Päckchen rauchbare Zigaretten mindestens 14 Dirham kosten. Für eine ganze Packung reicht es also meist nicht. Dieser Umstand hat den Beruf des Zigaretten-Detailisten ins Leben gerufen. An den Strassenecken, an den Toren und Hauptstrassen sitzen junge Männer auf Schemeln und haben 4 - 5 Päckchen Zigaretten vor sich auf dem Boden liegen und bieten die Zigaretten für 1 Dirham an. Einheitspreis, wie beim Brot. Überhaupt werdet ihr noch erfahren, dass es hier für fast alles fixe, absolut fixe, Einheitspreise gibt. Zurück zu unserem Zigarettenverkäufer. Er kauft also 1 Packung Zigaretten im Tabakgeschäft für 16,50 Dirham und verkauft die 20 Zigaretten für 20 x 1 Dirham. Wenn er alle verkauft hat, hat er 3,50 Dirham verdient. So schnell geht das nicht, denn oft kaufen die Leute nur 1 Zigarette.

Ein andrer Erwerbszweig steht hübschen 7 jährigen Jungs offen. Das Erkennungszeichen ihres Jobs sind 1 oder mehrere Packungen Tempo®-Taschentücher in der Hand. Sie hängen sich an die Fersen der Touristinnen und Touristen, die hier tagsüber die Medina überfluten, und fangen ein Verkaufsgespräch mit dir an. ‘Messiou, donne moi 3 Dirham’.
Und halten einem die Taschentücher hin. Der Preis ist viel zu hoch, 1 Dirham pro Päckchen ist angemessen. Wenn ich sie auf 1 Dirham runterhandeln kann, nehme ich ihnen 1 Päckchen ab. Aber sie lassen sich nicht runter handeln. Denn das Angebot mit den Tempos ist nur ein Vorwand für offenes Betteln. Denn jetzt geht das Verkaufsgespräch weiter. Er hält dir die Hand hin und zeigt dir eine 10 Centimes-Münze und sagt ‘Avez vous changé ?`’, kannst du wechseln ? Hä, wechseln, ich soll ihm quasi 0,8 Eurocent wechseln. ‘oui, donne moi 1 Dirham’. Und dabei grinst er dich mit dem verführerischsten Lächeln an, das dann viele Frauen zum Erweichen und Einlenken bringt. Ein ganz besonders hübscher und frecher Junge hat mich neulich beharrlich verfolgt. Ich spiele auch ein bisschen mit diesen Jungs herum, um der Situation durch Komik etwas mehr Würde zu verleihen. Ich nehme also die 10 Centimes, stecke sie in die Tasche. Der Junge freut sich. Was gebe ich ihm dafür. Ich nehme ein Tempotaschentuch und biete es ihm an. Er wird sauer, will sein Geld wieder haben. Ich, nix ist. Er bleibt mir auf den Fersen. Er bekommt von mir einen gehauchten Klapps auf den Hinterkopf . Er lässt nicht locker, verfolgt mich jetzt schon 100 m. Jetzt trete ich ihm spielerisch mit einer ¼ Drehung im Gehen in den Hintern. Junge Marokkaner, die an einer Mauer lehnen, grinsen sich einen. Endlich zieht er Leine und dreht um. Ich fürchte ich habe diesem Jungen 0,8 Eurocents abgenommen. Ich werde zur Beichte gehen müssen.

So, jetzt geht es aus der Medina durch das Bab Doukala hinaus zum Bus- und Taxibahnhof, der die Schnittstelle zwischen Alstadt, Neustadt und der grossen Welt draussen ist. Da stehen erst mal in einer langen Reihe blau gestrichene Pferdekutschen, Fiaker artig, und bieten dir ihre Dienstleistung an. Einheitspreis. Eine Fahrt im gesamten Stadtgebiet, egal wohin. Immerhin ist die Neustadt so 5 x 6 km gross. Fahrpreis 2 Dirham.

Demnächst erfahrt ihr mehr über den Nahverkehr, über die ständische Organisation des Arbeitslebens und das feudale Königreich Marokko im 2. Teil des Blogs.

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